Madeirenser erinnern sich |
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22.06.15 20:35
Torwarttrainer Madeira-Riesenfingerhut
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Madeirenser erinnern sich
Der Tag als sich die Sonne versteckte.
Boa noite, der nun folgende Bericht wurde uns, bei einem unserer Besuche, auf Madeira, erzählt.
Der Erzähler Senhor Carlos: Es war zum Ende der fünfziger Jahre, das Frühjahr war feucht, unsere Landwirtschaft brachte einen zufriedenstellend, guten Ertrag. Ich war unterwegs um geerntete Kartoffeln und Kraut zu einer Verkaufsstelle zu bringen. Der Wind war heftig, aber nicht unangenehm. Nein, an diesem Nachmittag nicht. Paulo, den ich auf dem Markt traf, er war vor kurzem aus Venezuela zurückgekommen, reagierte als erster. Er blickte zu den Bergen und machte uns auf die schwarze, schnelltreibende Wolke aufmerksam. Schon hörten wir das surren und brausen der millionen Insekten. Nach nur wenigen Minuten wurde der sonnige Tag zur Dämmerung. Für uns war es wichtig, so schnell als nur möglich, nach unseren Familien zu sehen. Beim rennen über den Platz klatschten uns die Heuschrecken gegen den Körper. Mein Gesicht konnte ich nur unzureichend schützen. Inzwischen saßen schon viele der Tiere auf dem Boden so dass bei jedem Schritt das Knirschen zu spüren und zu hören war.
Nach etwa drei Tagen hatten die Plager ganze Arbeit in der Landwirtschaft geleistet. Nachdem alles Grün von Kohl und Kartoffeln abgefressen war, verendeten die Heuschrecken. Unsere Hilflosigkeit hatte ein Ende, der Schaden blieb länger.
Adeus: Tiago
Zuletzt bearbeitet am 07.07.15 22:46
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08.07.15 22:54
Torwarttrainer Madeira-Riesenfingerhut
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Re: Madeirenser erinnern sich
Die Nacht als Madeira zitterte oder ein weites Meer
Boa noite
"Es war in dem Jahr in dem ich fünfzehn wurde. Dies weiß ich deshalb noch so genau, da am Vortag der erste Brief von meinem Bruder aus Trinidad eintraf. Meine Eltern waren überglücklich, endlich, nach nahezu 2 Jahren, eine Botschaft, von ihrem einzigen Sohn, in den Händen zu haben. Das Schreiben, das einige Monate unterwegs war, wurde von Mutter gestreichelt und geküsst, in ihrer Schürzentasche aufbewahrt und immer wieder hervorgeholt um es auch den Nachbarn zu zeigen. Lesen konnte sie es nicht, auch Vater nicht, dafür war ihre sehr kurze Schulzeit schon zu lange beendet. Sie mussten also warten bis ich am Nachmittag von der Mädchenschule nach Hause kam. Manuel wollte nicht mehr auf Madeira, der verarmten, hungrigen, perspektivlosen Insel, bleiben. Mittel- und Südamerika lockten. Er war gerade mal 15 Jahre alt, als ihn die Sehnsucht nach der Reise über das große Meer packte. Schon so viele Madeirenser segelten in diese Richtung, er fuhr ihnen hinterher. Den Brief musste ich ihnen immer wieder vorlesen, am Abend kannten sie ihn auswendig, so dass, wenn ich ein Wort ausließ, sie mich sofort verbesserten. Den Umschlag und das Schriftstück, das nicht mehr als vielleicht zehn Sätze hatte, nahmen sie natürlich auch mit in ihr Bett." Senhora Bela gönnt sich nun eine kurze Pause, um sich zu sammeln und ihre feuchten Augen abzuwischen. Die Sonne ist längst untergegangen, Dunkelheit umgibt uns. Niemand von uns denkt jetzt schon daran sich schlafen zu legen. Zu sechst sitzen wir unter der Laube am großen Holztisch und warten auf die weitere Erzählung von ihr. Senhor Carlos knipst das Licht an aber die Hausfrau bittet ihn es wieder zu löschen. Statt dessen holt sie eine Petroleumlampe, zündet diese an, stellt sie auf den Tisch und spricht weiter. "Unser damaliges Haus war viel kleiner als das Jetzige. Es war einstöckig, hatte nur drei Zimmer, deren Türen alle direkt auf diese Terrasse aufgingen. Die Küche, in einem seitlichen Anbau, hatte nur einen gestampften Boden aus roter Erde. Die Fensteröffnungen hatten keine Flügel mit Glasscheiben sondern nur Klappläden. So dass es in einer kalten Winternacht schon recht unangenehm war." Senhora Bela trinkt einen Schluck Wasser dabei stelle ich ihr Fragen nach der Toilette und nach der Wasserversorgung. Eva will wissen, wie lange Manuel in Trinidad geblieben ist. "Manuel war verheiratet, hatte vier Kinder und starb vor etwa 10 Jahren ohne jemals wieder nach hier zu kommen. Die Toilette war eine Hütte direkt über der Grube. Ich hatte Angst sie zu benutzen, da der Bretterboden nur unzureichend gelegt war. Brauchwasser kam, genau wie jetzt auch, über die Levada. Unser Trinkwasser musste am Brunnen, oben am Weg, geholt werden. Ola Tiago, ich weiß, dass du dir nachher Notizen, von allem was ihr hier hört und erlebt, machst. Soll ich eine Pause machen und morgen weitererzählen?" Senhora Bela ist sichtlich mitgenommen in ihren Erinnerungen aber auch froh uns darüber berichten zu können. Ich antworte ihr dass sich auch Eva an unseren Aufzeichnungen beteiligt und deshalb recht wenig von Gehörtem und Gesehenem verloren geht. Ergänzend füge ich noch an "wie ihr wisst werden alle Namen, beteiligter Personen, geändert. Nur einen einzigen ändere ich nicht, ich schreibe ihn nur auf Portugiesisch. So, Senhora Bela, wenn Sie nun weitererzählen möchten, dann bitte." Erfreut spricht Senhora Bela weiter. "Nun aber zurück zu der betreffenden Nacht von der ich euch erzählen will. Die Atmosphäre war ähnlich der heutigen, als mich meine Mutter aus dem Bett holte und mich fragte ob ich nicht die Detonationen gehört und das Beben gespürt habe. Nein, habe ich nicht. Ich habe tief geschlafen. Verunsichert fasste ich nach ihrem Nachtkleid. Beide gingen wir Vater nach, der schon auf dem Caminho stand und sich aufgeregt mit den Nachbarn unterhielt. Kurze Zeit später kamen fremde Leute die Pfade und Wege hoch. Viele davon nur notdürftig bekleidet. Alle hatten es eilig. Angst stand in ihren Gesichtern. Kleine Kinder wurden auf den Armen getragen, die älteren eiligst hinterher gezogen. Die Morgenröte wälzte sich schon über die Berge. Viele Menschen aus der Stadt und den unteren Gemeinden waren inzwischen in Santo Antonio angekommen. Die Geflüchteten wurden mit Wasser versorgt, Kinder, aber auch mancher Erwachsene bekam etwas zu Essen. Als der Leiteiro kam, wie so oft nur mit einem Schuh, den anderen Fuß hatte er dann gekonnt mit Tüchern verbunden, gab es sogar Milch (verdünnte?) für die Bedürftigen. Was vorgefallen war wusste der Milchmann zu berichten. Nach seiner Aussage tauchte draußen vor dem Hafen ein Kriegsschiff auf, das überraschend drei Raketen in die Bucht von Funchal abfeuerte. Welchen Schaden es dabei gegeben hatte konnte er aber nicht sagen. In der Morgendämmerung drehte das Schiff, offenbar ein deutsches, ab und verschwand auf dem weiten Meer."
Madeira maravilhosa
Adeus: Tiago
Zuletzt bearbeitet am 27.12.15 12:07
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28.09.15 12:07
Torwarttrainer Madeira-Riesenfingerhut
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Re: Madeirenser erinnern sich
Familientreffen 2015 Teil 1 oder was hat der französische Jura mit Ilha da Madeira gemeinsam?
Boa tarde
Ein Einfamilienhaus, auf der Sonnenseite, am Oberlauf von la Bienne, in den Farben Grün und Rot gehalten, hebt sich deutlich von den Nachbarhäusern ab. Der große Wintergarten, vor dem Haus, lässt die Aussicht auf die Berge, gegenüber im Tal frei und gibt genügend Raum für Familiäres. Am Hang rings um das Gebäude ist das Grundstück mit Blumen, Obstbäumen und Gemüsegarten angelegt und in sehr gepflegtem Zustand. Dies ist, nach etwa 500 km Autofahrt, unser erster Eindruck von dem Anwesen das, in den folgenden sechs Tagen, der Mittelpunkt unseres Aufenthalts sein wird.
Die mündliche Einladung zu diesem Familientreffen gab es schon im vergangenen Jahr, während unseres Aufenthaltes auf Madeira, bei Umberta und Jose. Die schriftliche Terminierung erfolgte im diesjährigen Frühling. Für uns war beidemal gewiss, da möchten wir dabei sein.
Umberta erklärte uns, dass diese Zusammenkommen der Geschwister, zunächst bei Senhor Carlos, 1980, und dann bei Senhora Belas, 80ten Geburtstagen, 1981, von den drei Geschwistern angesprochen und auch weitestgehend, bis zu diesem Zeitpunkt, eingehalten wurden. Was nicht so ganz einfach ist wie es denn geplant wird. Denn: Benvinda, die älteste, zog es 1959, mit ihrem Mann, er ist vor vier Jahren verstorben, nach Südafrika. Agostinho sei 1961 nach Frankreich emigriert und hat dort geheiratet. Nur sie, als Nachkömmling, wohnt noch, mit Familie, im Elternhaus. Nun, dieses insgesamt neunte Treffen findet heuer im französischen Jura statt und Eva und ich dürfen dabei sein.
Die Geschwister sind schon vor einigen Tagen angekommen und empfangen uns gemeinsam vor dem Haus. Hier ist Umberta, mit ihrem Mann Jose, dann Benvinda, mit der Enkeltochter Carla, als Begleitung und schließlich die Eigentümer, Agostinho und Frau Denis. Nach Umarmungen und Küsschen und einem Sprachgewirr, es wird portugiesisch, französisch, englisch, afrikaans und deutsch gesprochen, verrückt, setzen sich alle um den großen Tisch im Glasanbau und Jose bittet um eine Minute des Gedenkens an die Eltern, Senhora Bela und Senhor Carlos.
Ja Madeira ist allgegenwärtig. Ob bei den Mahlzeiten, jeden Tag natürlich zweimal warm, mit Bacalhau, Espetada, Frango, Grao de Bico, Vinho tinto, Bolo de Mel, Pudim de Mel, Sopa de Couve, Batatas cozidas. Oder dem Kartenspiel, mit emotionsreichen Gesten und Erklärungen. Der handgemachten Hausmusik, mit Gitarre und Mundharmonika, in tränenreicher Saudade. Auch hier ist Ilha da Madeira.
Überaus wichtig für uns, Eva und mich, sind die Erinnerungen der anwesenden Madeirenser:
"Wenn wir als Kinder", so Benvinda, "mit unseren Eltern, an Sonntagnachmittagen auf Avenida do Mar spazieren gingen, trafen wir vermehrt junge Deutsche, Männer und Frauen. Sie schienen sich hier sehr wohl zu fühlen, waren ausgelassen aber diszipliniert. Nur tagsüber waren sie an Land, denn gegen Abend fuhren sie mit Ruderbooten wieder zurück auf ihr Schiff. In meinen Erinnerungen, als etwa zehnjährige, kamen diese Besucher bis zum Beginn der vierziger Jahre."
Nun erzählt auch Agostinho: "Ja richtig, denn als ich zehn Jahre alt wurde kamen keine Deutschen mehr nach Madeira. Erinnern kann ich mich aber noch gut an Comboio do Monte. Ola, war das ein Erlebnis. Den Dampfgeruch habe ich noch heute in der Nase und wahrscheinlich auch ein Stückchen Kohle im Auge. Der Betrieb wurde dann aber eingestellt, die Streckenführung schien vielen, auch wegen einiger früherer Unfälle, zu gefährlich zu sein."
"Auf einem der Kreuzfahrtschiffe, welche Nationalität wissen wir nicht mehr, sorgte ein Feuer an Bord für die Evakuierung der Passagiere und einen Großeisatz von o Bombeiros. Die Menschen wurden mit den Rettungsbooten an Land gebracht wo sich viele Freiwillige um Beistand und Hilfe bemühten. Das Schiff selbst fuhr aus eigener Kraft auf das offene Meer, dort setzte man die Löschaktion fort.
Was dann nach Ende des Krieges vorkam, erregte die ganze Insel. Ein großes russisches Versorgungsschiff ankerte vor Funchal. Dessen Kapitän bat, in den Hafen einfahren zu dürfen um die mitgeführten Lebensmittel, an die Bevölkerung zu verteilen. Was die Repräsentanten der Inselverwaltung aber nicht genehmigten. Die Hoffnung der notleidenden Madeirenser, auf eine verbesserte Verpflegung, wurde auf das ärgste enttäuscht. Am vierten Tag löschte der Russe die Ladung vor den Augen vieler Einheimischer und drehte ab, fort, auf das weite Meer hinaus.
Die Landesfahne, die jeden Mittag um Punkt 12 Uhr am Palacio de Sao Lorenco gehisst wurde, musste weiterhin, in Ehrfurcht, von den Passanten gegrüßt werden."
Madeira maravilhosa
Adeus: Tiago
Ende Teil 1
Zuletzt bearbeitet am 27.12.15 12:11
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03.10.15 12:18
Torwarttrainer Madeira-Riesenfingerhut
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Re: Madeirenser erinnern sich
Familientreffen Teil 2 Oder Melancholie im französischen Jura
Boa tarde
"O sim, hierzu kann ich auch etwas beitragen", meldet sich nun Umberta zu Wort. "Wenige Tage vor meiner Erstkommunion, 1952, ging unsere Gruppe nach Funchal hinunter. Beteten zunächst in a Igreja da Se und spazierten danach auf Avenida Arriaga in Richtung Jardin Municipal. Nach wenigen Schritten läuteten hinter uns die Glocken der Kathedrale die Mittagsstunde. Und schon wurden wir von einem Polizisten aufgefordert stehen zu bleiben und unsere Nationalfahne, die soeben am Palast des Gouverneurs aufgezogen wurde, zu grüßen. Etwas eingeschüchtert von der recht rauen Wortwahl des Uniformierten, blieben wir Kinder, zusammen mit unserer Begleitperson stehen, bis dass o Barulho vorüber war."
"Senhor Carlos, arbeitete zu der Zeit schon lange in einer Bäckerei in der Rua das Maravilhas. An sechs späten Abenden, in der Woche, ging er zu Fuß den steilen Caminho do Pilar hinunter. Nur hoch, nach der Arbeit, genehmigte er sich manchmal den Linienbus. Aber nicht all zu oft. Nein, nur dann, wenn er die wöchentliche Brotration und andere Lebensmittel zu tragen hatte. Pai arbeitete dort bis zu seinem Rentenbeginn, 1960. Unsere Landwirtschaft war ja nur ein Nebenerwerb. Viele andere Männer arbeiteten damals als Tagelöhner und Erntehelfer, ohne Rentenanspruch, in einer Quinta bei einem Patrao. Diese hatten dann, im Alter, große Armut zu erleiden." Und wieder schaltet sich Umberta in die Erinnerungen ein: "Das Brot, das Vater mitbrachte, war immer so schrecklich fest und dunkel gebacken. Als kleines Mädchen habe ich es gar nicht gerne gegessen. Eines schönen Tages, gab Mutter mir ein paar Centavos, um beim Bäcker, in o Caminho do Ribeirinho, Pao branco zu kaufen. Wahrscheinlich machte ich dabei einen Freudensprung, so dass mich Mae erstaunt anschaute. In großer Vorfreude auf das Brot, lief ich eiligst den weiten Weg. Ich nahm an, es ist ganz allein für mich. Also fing ich schon auf dem Heimweg an, davon zu naschen. Hmm, schmeckte lecker. Viel besser als o Pao escuro. Bis ich zu Hause ankam, hatte ich das Weiche schon nahezu gegessen und nur noch a Crosta in den Händen. Ola, das gab Schimpfe."
Die von uns mitgebrachte Wanderkarte und auch der Wanderführer, liegen bei all diesen Gesprächen auf dem Beistelltisch, und werden von allen Anwesenden häufig benützt. So auch jetzt wieder, da Benvinda und Agostinho, zu den Berichten von Eva und mir, über unsere vielen Wanderungen auf ihrer Heimatinsel, sich äußern. "Nao, von allen diesen Wanderzielen, kennen wir, damit meine ich die meisten Madeirenser unserer Altersgruppe, die wenigsten. Pilgern ja, aber Wandern, nein, dazu fehlte uns der Mut und Wille. Waren wir doch schon im Alltag, meist zu Fuß unterwegs. Trugen Lasten oder machten Besorgungen, sollten das auch noch in unserer Freizeit tun, freiwillig. Nao. Für die Levadas wurden Levadeiros bezahlt, diese mussten dort gehen und für den Wasserfluss sorgen. Übrigens, unser Wasser kam damals von der Levada do Curral e Castelejo, ich nehme an dass sich daran bis heute nichts geändert hat. Und in die Berge gehen? Ola, ja schon aber nicht um zu wandern. Einmal half ich bei der Schur as Ovelhas, die wir zuvor in o Curral getrieben haben. Ein andermal im Winter, da haben wir uns, als junge Kerle, mit Gelo e Neves tragen, ein paar Escudos verdient."
"Selbst Leute in meinem Alter", berichtet nun Jose, "sind nur sehr wenige, zum Vergnügen, wandern gegangen. Ich wuchs in Faja dos Cardos auf, hier bei uns im Ort mussten alle Wege gegangen werden. Die Straßenanbindung war damals nur bis Eira do Serrado, ab da gab es nur noch Pfade. Nach Jardim da Serra oder nach Corticeiras gehen, das war relativ einfach, nach Lombo do Urzal schon etwas schwieriger. Ein einziges Mal ging ich mit meinem Pai auf dem direkten Weg nach Santana. Ola, das war mühsam und gefährlich. Wenn ich mich recht erinnere, gingen wir zunächst in Richtung Boca das Torrinhas, um dann, etwa auf halber Höhe, nach rechts einen Treppenaufstieg zum Pico Ruivo zu nehmen. Dieser Aufstieg hatte es in sich. Die Stufen wollten kein Ende nehmen. Seitwärts an die steilabfallende Felswand geschlagen und noch unzureichend gesichert, war es recht leichtsinnig diese "Abkürzung" zu gehen. Ob es diesen Weg zum Ruivo noch gibt, kann ich nicht sagen. Eines weiß ich aber mit Sicherheit, freiwillig gehe ich solch extreme Passagen nicht mehr."
"Von einer großen Wanderung wissen wir auch noch zu erzählen", erinnern sich Benvinda und Agostinho. Wir beide mit Pai, da Großmutter krank war musste Mae zu Hause bleiben, machten uns auf den Weg nach Porto da Cruz. Schon früh am Morgen, es war noch dunkel, gingen wir los. Hoch nach Monte und Terreiro da Luta ist sicher, nur wie es dann weiter ging können wir heute nicht mehr genau sagen. Wahrscheinlich über Pico da Suna, Cabeco Furado nach Cruz, denn dort wohnten die Großeltern. Ola, es ist ein langer Weg. Erst spät am Abend kamen wir an, müde und mit wunden Füßen. Sim, am gleichen Tag. Dagegen waren Wege nach Funchal, zum Krankenhaus in Monte, auf den Friedhof oder sonntäglich zur Kirche eine Kleinigkeit."
"Wir liebten unsere Eltern, unsere Familie, hatten eine behütete Kindheit und verließen dennoch die Heimat. Sim, das ist unser Blut."
Es ist Sonntag, Abschiedstag für uns und wieder stehen Alle vor dem Haus. Werden wir einen dieser Lieben wiedersehen? Jose spielt zum Abschied auf seiner Mundharmonika. Ein Lied, von dem nur Eva und ich den Text mitsingen können. "Ich hab mein Herz in Heidelberg verloren"
Melancolia
Madeira maravilhosa
Adeus: Tiago
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03.10.15 22:36
ulrichnicht registriert
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Re: Madeirenser erinnern sich
Du beschreibst sehr eindrucksvoll, warum die Einheimischen wenig Verständnis dafür haben/hatten, dass wir Touristen uns freiwillig in den Bergen herumtreiben: Wer - sozusagen dienstlich - von Faja dos Cardos über den Pico Ruivo nach Santana laufen muss (eventuell noch beladen mit allerlei Lasten), der wird sich das freiwillig nicht antun. Den beschriebenen Weg sind wir - sofern ich mich recht entsinne - 1987 gegangen; die Abkürzung" rechts des Weges hoch zum Torrinhas-Pass hatte es in sich (vermutlich gibt es den Weg inzwischen gar nicht mehr). Mich faszinierte immer wieder, wie klug diese ehemaligen Verbindungswege über das Gebirge angelegt waren: Immer ein Stück steil, dann etwas eben (zum Verschnaufen), mal in der Sonne, dann wieder im Schatten. Wenn man selbst mit Rucksack und Zelt (ca. 20 kg) für einige Tage unterwegs war, bemerkte man das mit Wohlwollen und lernte es richtig schätzen. Erzähle bitte weiter, Tiago. mfg Ulrich
Zuletzt bearbeitet am 03.10.15 22:39
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20.11.15 12:17
Torwarttrainer Madeira-Riesenfingerhut
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Re: Madeirenser erinnern sich
weit abgelegen andächtige Ruhe
Boa tarde
"Meine Mutter war der Meinung, nur wer eine ausreichende Schulbildung bekommt der hat im Leben Erfolgsaussichten. Nur wer gottesgläubig ist, wird ein anständiger und verlässlicher Mensch. Also wurde ich schon sehr früh angehalten zur Kirche und zur Schule zu gehen. Ganz erstaunt war sie über meinen Eifer dabei und lobte mich oft überschwänglich dafür. Voller Mutterstolz erzählte sie den Nachbarn, dass ihr Sohn nun zweisprachig aufwächst. Ja zweisprachig, zu Hause sprachen wir unseren bäuerlichen Dialekt, in der Kirche und in der Schule aber das Standardportugiesisch, von dem meine Eltern nicht jedes Wort verstanden. Denn die Schule besuchten beide nur etwa zwei beziehungsweise drei Jahre. Während mein Vater das Lesen ganz verlernt hatte, kannte Mutter wenigstens noch die Buchstaben. In unserem Ortsteil war zu dieser Zeit noch kein elektrisches Stromkabel verlegt, demnach hatten wir auch keinen Radio und deshalb durfte ich ihnen alles Schriftliche, das in unser Haus kam, vorlesen. Und nun war ich der Stolze."
"Wer von den jungen Leuten weiß heute noch, wie mühsam es war, bis zum Ende der fünfziger Jahren, von Curral nach Funchal zu kommen?" So fährt Jose mit seinen Erinnerungen an sein Heimatdorf fort. "Und nicht nur von Süden her, nein von allen Himmelsrichtungen, war unser Dorf, zu jener Zeit, nur zu Fuß zu erreichen. Als Bube erlebte oder hörte ich von einigen Ereignissen, die mit unserer Abgeschiedenheit und dem Zustand os Caminhos unmittelbar zusammenhingen." "Die ältere Schwester meines Vaters war zum Feuerholz sammeln in den höheren Lagen und stieg, mit dem Reisigbündel auf dem Kopf, den sehr schmalen Pfad abwärts. An einer ausgesetzten Stelle kam ihr ein ehemaliges Nachbarsmädchen, mit der sie sich schon zu Kinderzeiten nicht besonders gut verstand, entgegen. Diese drückte sich, kaum dass sie sich sehen konnten, sofort mit dem Rücken an den leicht überhängenden Felsen. So dass die abwärtsgehende Tante die gefährlichen Schritte vor sich hatte. Na ja, eine von beiden musste hier ein Risiko eingehen. -Aber warum ich, wo ich doch eine so sperrige Last auf dem Kopf trage?- dachte meine Tante. Und so kam es zu einer heftigen Auseinandersetzung. Welche damit endete, dass das Holz die steilabfallende Felswand hinunter purzelte und Tante sich gerade noch so vor einem Sturz in die Tiefe retten konnte. Beide Frauen erlitten dabei blutige Abschürfungen und ihr persönliches Verhältnis besserte sich darauf nie mehr."
Inzwischen hat sich auch die Schäferhündin Maravilha bei uns unter der Pergola eingefunden. Um eine kleine Aufmerksamkeit zu erlangen, reibt sie ihren Kopf an den Beinen von Jose. Er krault ihr den Rücken bis sie sich zu seinen Füßen niederlegt. "Ein anderes Mal weiß ich von einem Schulkameraden, was dessen Mutter widerfuhr", spricht Jose weiter."Zunächst aber muss ich von meinem täglichen Weg zur Schule und zum sonntäglichen Gottesdienst erzählen. Meine Familie wohnte ziemlich weit draußen im Tal, weit abseits auf unseren Feldern. Die eigentlich nur kleine und kleinste Parzellen waren. Mühsam, schon von meinen Vorvorvätern der rauen Natur abgetrotzt, terrassiert und angebaut. Gehegt und gepflegt und daher meist auch mit einem ausreichendem Ernteertrag gesegnet. So dass unsere Familie keinen Hunger erleiden musste. Mit einigen Ortsnachbarn taten wir uns zusammen, um unsere Erzeugnisse nach Funchal zu tragen und diese dort auf dem Bauernmarkt zu verkaufen. Nur so kam damals das notwendige Bargeld, welches unter anderem für meinen Schulbesuch benötigt wurde, in die Haushaltskasse. Obwohl ich einige zeitsparende Abkürzungen kannte, war mein Schulweg mühsam. Nicht immer konnte ich den kürzesten Weg gehen. Da gab es o Cachorro, mit dem kam ich nicht gut aus, auch er mochte mich nicht. Schien aber genau zu wissen, zu welcher Zeit ich über sein Grundstück gehe. Der Pfad führte recht nahe an seiner Hütte vorbei, so dass die Leine ausreichend lang für ihn war um mich anzufallen. Was auch einige Male, wenn ich unachtsam war, vorkam. Andermal waren as Levadas oder der Bach überflutet, stürzende Wassermassen wälzten sich ins Tal, dann war an einen Besuch der Schule oder des Gottesdienstes nicht zu denken. Mitunter konnte ich aber auch nicht den Heimweg gehen, da Erdrutsche oder Fließwasser ihn versperrten. Für diese Fälle hatte meine Mutter vorgesorgt. Ich durfte bei der Familie meines Schulfreundes bleiben und dort auch übernachten. Mein Klassenkamerad Alvaro wohnte mit seiner Mutter und seinem Großvater, Senhor Figueira, nahe a Igreja Nossa Senhora do Livramento. Sein Vater arbeitete schon seit einiger Zeit in Venezuela und versorgte die Familie ausreichend gut, wünschte aber, dass alle in absehbarer Zeit zum ihm übersiedeln. Es geschah dann im Februar: Nach mehrtägigen, heftigen Niederschlägen kam es zu Überflutungen und Erdrutschen. Die Wege im Dorf waren matschig, die Pfade aus dem Tal heraus durch herab gestürzte Felsen und Geröll nahezu unpassierbar und gefährlich. Männer aus dem Ort taten sich zusammen und begannen mit Räumarbeiten der wichtigsten Verbindungen. Dabei kam es zu einigen kleineren Unfällen, zwei Arbeiter rutschten an einem Schräghang ab und verletzten sich dabei leicht. Ein anderer Mann brach sich den Arm, als er von einer freilaufenden Vaca an eine Felswand gedrückt wurde. Alvaros Mutter klagte an diesen Schlechtwettertagen über heftige Schmerzen im Unterleib. Er führte sie em Casa de Saude, dort wurde ein entzündeter Blinddarm diagnostiziert, welcher sofort operativ behandelt werden musste. Dies bedeutete die umgehende Überbringung ao Hospital dos Marmeleiros de Monte. Für Senhora Figueira wurde uma Rede de Doente mit vier männlichen Begleitern, davon abwechselnd jeweils zwei Männer als Träger und zwei zur Sicherheit, organisiert. So gingen sie den beschwerliche Aufstieg a Eira do Serrado an. Wie Alvaro, der zusammen mit der Krankenschwester hinter dem Krankentransport ging, später berichtete, kamen sie trotz heftigen Gewitters gut voran. Plötzlich, kurz nach der zweiten Ablösung der Träger durch deren Begleiter, war neben dem Donnergrollen ein tosendes Rumpeln am Berg zu hören. Der Steinschlag traf die Mutter und zog sie zusammen mit dem vorderen Träger die steil abfallende Bergflanke hinab. Für uns Dörfler war es für lange Zeit wichtig, den Unglücksort mit frischen Blumen zu schmücken und dort für die Verunglückten und deren Angehörige zu beten."
Mir scheint, dass sich alles andächtig und ruhig während den Erinnerungen von Jose verhalten hat. Erst jetzt scharren as Galinhas wieder im Stall. Nun bewegen sich auch die Blätter der Bäume wieder. Erst jetzt steht Maravilha wieder auf und reibt ihren Kopf an den Beinen von Jose. Erst jetzt krault er ihr wieder den Rücken.
Madeira maravilhosa
Adeus: Tiago
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07.12.15 12:22
ulrichnicht registriert
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Re: Madeirenser erinnern sich
Eine wunderbare Erzählung bei der man sich so richtig in die damalige Zeit hinein versetzen kann. Einem solchen Krankentransport mit zwei Männern, die den Kranken an einer auf ihren Schultern getragenen, schweren Stange von Curral de Baixo nach Curral das Freiras schleppten, sind wir in den achtziger Jahren auch noch begegnet. Der Kranke lag in einer Art Hängematte. Wir waren froh, dass wir uns nicht in einer derart misslichen Lage befanden. Wie lange wird es wohl gedauert haben, vom Haus des Erkrankten bis zur Gesundheitsstation? Man musste ihn damals die ca. 1000 Treppenstufen nach C. d. F. hinauftragen ... das war schon mit unseren Rucksäcken ein ganz schönes Stück Arbeit. Wie gut haben wir es hier in Deutschland: Innerhalb von 10 Minuten ist der Krankenwagen mit erster Hilfe bei jedem zu Hause! Wer damals dort einen Schlaganfall oder Herzinfarkt hatte, war nicht mehr zu retten. Bin gespannt auf weitere Berichte. mfg Ulrich
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27.12.15 13:08
Torwarttrainer Madeira-Riesenfingerhut
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Re: Madeirenser erinnern sich
Boa tarde
In den Erinnerungen namentlich Erwähnte:
1 Tiago 2 Eva Frau von 1 3 Melanie Tochter von 1/2 4 Stefan Sohn von 1/2 5 Senhor Carlos Patrao 6 Senhora Bela Patroa, Frau von 5 7 Jose Schwiegersohn von 5/6 8 Umberta Frau von 7, Tochter von 5/6 9 Pedro Sohn von 7/8 10 Lydia Tochter von 7/8 11 Paulo Sohn von 7/8 12 Joao Schwiegersohn von 5/6 13 Benvinda Frau von 12, Tochter von 5/6 14 Carla Enkeltochter von 12/13 15 Agostinho Sohn von 5/6 16 Denis Frau von 15, Schwiegertochter von 5/6 17 Senhor Manuel Bruder von 6 18 Senhor Isidro Schwager von 5/6 19 Senhora Curacao Frau von 18, Schwester von 5 20 Silvester Mann von 36, Sohn von 18/19 21 Senhor Rodrigo Schwager von 5/6 22 Senhora Fernanda Frau von 21, Schwester von 5 23 Fermino Sohn von 21/22 24 Salome Frau von 23 25 Senhor Amadeo Schwager von 5/6 26 Senhora Olivia Frau von 25, Schwester von 6 27 Beatriz Schwester von 12 28 Ivone Schwester von 12 29 Jorge Bruder von 12 30 Rita jung Nachbarin von 5/6, 7/8 31 Alvaro Schulfreund von 7 32 Senhor Figueira Opa von 31 33 Filomena Frau in Santana 34 Senhor Celestino "Tino" Casa Pico Ruivo 35 Senhor Paulo Händler am Markt 36 Constanca Frau von 20 Maravilha Schäferhündin im Haus 5/6, 7/8 Adeus: Tiago
Zuletzt bearbeitet am 20.09.16 21:46
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